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Offener Brief an Ministerpräsident Armin Laschet zum Thema rollstuhlgerechter Wohnungsbau

Sehr geehrter Ministerpräsident Armin Laschet,

mit diesem Schreiben wende ich mich an Sie persönlich, Herr Ministerpräsident, mit einem Anliegen, dass sowohl mein berufliches als auch im besondern Maße mein privates Leben betrifft. Als Architekt, der selber immer häufiger auf den Rollstuhl angewiesen ist, habe ich die Entwicklung im Bereich des barrierefreien Bauens mit besonderer Aufmerksamkeit und großem Interesse verfolgt.

Dies betrifft zum einen die erfreuliche technische Entwicklung im Bereich von Hilfsmitteln und Einrichtungen / Ausstattungen, als auch die Seite der Verordnungen, DIN-Normen und jetzt besonders die Novellierung der Landesbauordnung.

Ich habe persönlich die Erfahrung gemacht, dass die Suche nach einer bezahlbaren und rollstuhlgerechten Wohnung ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen sein kann. Ich erlaube mir mit diesem Schreiben, einen kleinen Beitrag zur aktuellen Diskussion zu liefern.

Nach den Angaben der Beauftragten der Landesregierung für Belange der Menschen mit Behinderung in Nordrhein-Westfalen leben ca. 350.000 Menschen in NRW, die auf die zeitweise oder vollständige Nutzung eines Rollstuhles angewiesen sind. Dies bedeutet, dass es in Aachen statistisch gesehen ca. 4.800* Menschen sind, die eine so starke Behinderung haben, dass sie den Rollstuhl als Hilfsmittel zumindest zeitweise benötigen.

Dem steht nur eine sehr geringe Anzahl an rollstuhlgerechten Wohnungen gegenüber. So hat nach meinem Informationsstand die gewoge AG gerade mal ca. 80 Wohneinheiten in ihrem Portfolio. Andere Anbieter haben Heimplätze oder Betreutes Wohnen im Angebot, aber keine Wohnungen für beruftätige Rollstuhlfahrer*innen oder Familien mit einem Kind, das auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen ist.

Ende November 2017 gab es im Stadtgebiet Aachen gerade mal 147 rollstuhlgerechte Wohnungen, für die es aufgrund der Wohnungsbauförderung noch eine Belegungsbindung gab. Wenn man die beiden Zahlen gegenüber stellt 147 zu 4.800, sieht man schnell das deutliche Missverhältnis.

Hier muss jedoch der Fairness halber eingeräumt werden, dass diese beiden Zahlen alleine wenig Aussagekraft haben. Zu den 147 Wohneinheiten kommen sicher noch geeignete Wohnungen, die aber schon aus der Bindung gefallen sind, und Wohnungen auf dem freien Markt.

Wenn die Ursache der Behinderung keinen Versicherungsfall darstellt, oder die eigenen finanziellen Möglichkeiten nur beschränkt sind, bleibt das Angebot an geeignetem Wohnraum nur sehr eingeschränkt; das Angebot an günstigem Wohnraum ist erst recht sehr gering. Auch wenn nach Zahlen des statischen Bundesamtes ca. 43% der Menschen mit einer Behinderung im erwerbsfähigen Alter (18 bis 65 Jahre) sind, ist der Anteil der erwerbsfähigen und -tätigen recht gering und dazu verfügen sie in der Regel nur über ein geringes Einkommen.

Gerade unter den Gesichtspunkten der demographischen Entwicklung wird sich der notwendige Anteil an barrierefreiem und auch rollstuhlgerechtem Wohnraum deutlich erhöhen müssen. Neben einem massiven Ausbau der Förderung von entsprechendem Wohnraum mit den Werkzeugen des sozialen Wohnungsbaus müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen gestaltet und die Weichen entsprechend gestellt werden.

Darüber hinaus bekommt die barrierefreie Gestaltung unserer Städte und Gebäude unter den Anforderungen einer alternden Gesellschaft und der UN-Behindertenrechtskonvention eine bedeutende Rolle.

Diesen Anforderungen sollte eine moderne und zukunftsorientierte Landesbauordnung Rechnung tragen und die zurzeit vorliegende Landesbauordnung 2016 hat gerade für den barrierefreien Wohnungsbau einige wichtige Weichen stellen sollen:

    • Die erstmalig eingeführte Definition des Begriffs Barrierefreiheit sorgt für eine sehr begrüßenswerte Klarstellung und Übereinstimmung mit anderen gesetzlichen Regelungen. Gerade unter dem Gesichtspunkt einer eigenständigen Teilhabe am beruflichen-, gesellschaftlichen- und politischen Leben sind klare Vorgaben zur Barrierefreiheit notwendig. Im diesem Zusammenhang ist auch eine wünschenswerte Einführung der DIN 18 040 mit allen Teilen als Technische Baubestimmung zu sehen. Wie oft bin ich selbst nach der Ankündigung von barrierefreien Einrichtungen an den Punkt gekommen, dass diese eben doch nicht mit einem Rollstuhl aufgesucht bzw. genutzt werden kann. Die Aussage: „Ach die zwei Stufen am Eingang oder die Treppe zu den Toiletten stören doch nicht, oder?“ hört man immer wieder. Bei solchen Vorstellungen frage ich mich regelmäßig, ob mein Gesprächspartner meint, ich sitze zu meinem Vergnügen im Rollstuhl und könnte bei Bedarf über die Treppen schweben.
    • Neben der R-Quote, die besonders massiv diskutiert wurde, war auch die Erhöhung der Anforderung zur Ausstattung von Gebäuden mit Aufzügen eine Maßnahme, durch die das Spektrum an barrierefreiem Wohnraum erweitert werden sollte. Die mit der Novelle der Landesbauordnung erstmalige Einführung der R-Quote  könnte ja nach einem zu definierenden Zeitraum evaluiert und entsprechend angepasst werden oder den Kommunen in der exakten Quantifizierung übertragen werden. So könnten Kommunen für Teilbereiche oder das gesamte Verwaltungsgebiet Regelungen nach einem vorgegebenen Spektrum definieren und so einen bedarfsgerechten Wohnungsbau steuern. Hierzu möchte ich nochmals auf das statistische Missverhältnis zwischen Rollstuhlnutzer*innen und dem Angebot an passenden Wohnraum verweisen. Nach meiner Erfahrung wird eine solche Vorgabe nur durch Bauherren umgesetzt, wenn es dazu eine gesetzliche Vorschrift gibt.
    • Die Regelungen zur Zugänglichkeit und Nutzung von Gebäuden, die öffentlichen zugänglich sind, werden immer wieder umgangen bzw. ignoriert. Schon mit der Landesbauordnung von 1984 wurde diese Anforderung formuliert und eingeführt und im Laufe der Zeit immer wieder verändert und weiter klagestellt. Dies betrifft Behörden, Arztpraxen, Geschäfte, Gaststätten, Restaurants, Theater, Kinos, Konzerträume, etc., also alle Gebäude des öffentlichen Lebens. Aber lange wurden diese Vorgaben missachtet bzw. man redete sich heraus. „Diese Vorschriften der Landsbauordnung sind ja nicht beim eigenen Bauvorhaben zu beachten; dieses Gesetz gilt ja nur für Behörden.“ In diesem Zusammenhang ist der Hinweis zu sehen, dass in Deutschland nur etwa 80% der ca. 200.000 Arzt- und Therapiepraxen in Deutschland für Menschen mit einer schweren Behinderung nur eingeschränkt oder gar nicht zugänglich sind. In Aachen hätten das Apollo-Kino, die Klangbrücke, etc. so nicht gebaut werden dürfen. Und wenn man bei angekündigten Kultur- oder Informationsveranstaltungen nachfragt, ob dieser gerade fertig gestellt und dabei eventuell noch öffentlich geförderten Veranstaltungsort auch rollstuhlgeeignet ist, bekommt man keine oder nur eine sehr ausweichende Antwort. Warum wohl?
    • Zu den befürchteten Mehrkosten, die sicher zu beachten sind, gibt es eine interessante Untersuchung für den „Deutscher Städte- und Gemeindebund“ aus dem Jahre 2016. Die Wohnungsbaugesellschaft TERRAGON hat für ein übliches Wohngebäude des eigenen Potfolios Mehrkosten von unter 0,9% der Gesamtkosten ermittelt.
    • In einen Gutachten der Architektenkammer NRW aus dem Jahre 2015 auf Grundlage eines Referentenentwurfs zur Novellierung der Landesbauordnung liegen die Mehrkosten für eine rollstuhlgerechte Wohnung nach DIN 18040-2/R bei ca. 0,5% der Gesamtkosten bei einem mittleren Standard. Dabei ergeben sich die Mehrkosten je Wohneinheit aus der ca. 5 qm größeren Wohnfläche aufgrund der notwendigen Bewegungsflächen für den Rollstuhlfahrer*innen.
    • Aber gerade eine nachträgliche Ertüchtigung von vorhandenem Wohnraum verursacht weitaus höhere Kosten und lässt sich oft nur sehr eingeschränkt umsetzen.

Nach der Beantwortung einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung der letzten Legislaturperiode fehlen in NRW ca. 300.000 barrierefreie Wohnungen. Eine sehr hohe Zahl, wenn man bedenkt, wie viele Wohnungen überhaupt pro Jahr fertiggestellt werden und wie viele gleichzeitig durch Abbruch verloren gehen.

Wie ich schon weiter oben dargelegt habe, führt der Verzicht auf barrierenfreien Wohnungsbau und dabei die Streichung der R-Quote nur zu sehr geringen Kosteneinsparungen, aber im Hinblick des demographischen Wandels müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die das Prinzip „ambulant vor stationär“ überhaupt erst möglich machen.

Mit diesem Brief möchte ich die Ihnen sicher schon bekannte Situation noch einmal nahe bringen und ans Herz legen. Die Bedeutung des barrierefreien Bauens kann in Anbetracht der demografischen Entwicklung gar nicht unterschätzt werden.

Ich bedanke mich im Voraus für die Beachtung meines Schreibens und würde mich freuen eventuelle Rückfragen beantworten zu dürfen und stehe Ihnen gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

 

(November 2017 | ml)

 

*    Errechnet aus den Angaben des Berichts der Beauftragten der Landesregierung für Belange der Menschen mit Behinderung in NRW, 16. Legislaturperiode, Tabelle 4-3, Seite 104