Der öffentliche Nahverkehr in Aachen,
am Ende des Betrages gibt es eine Stellungnahme durch den Fachbereich Stadtentwicklung und Verkehrsanlagen der Stadt Aachen.
In Aachen fand am 13.06.2015 eine BürgerWerkStadt zur Beteiligung der Bürger im Rahmen der Verkehrsentwicklungsplanung (VEP) unter der Stichwort Mobilitätsstrategie 2030 statt. Dazu wurde am Elisenbrunnen wie schon 2013 ein Zelt aufgebaut, in dem die einzelnen Themenfelder erläutert wurden, Zielvorstellung dargestellt und interessierte Besucher die einzelnen Punkte durch Aufkleber bewerten oder zusätzliche Anmerkungen und Ergänzungen machen konnten. Parallel gab es die Möglichkeit, sich im Internet an der Diskussion zu beteiligen. Eine gute Idee, die Bürger möglichst umfangreich am Verkehrsentwicklungsplan zu beteiligen und so Schwerpunkte und vielleicht zusätzliche Anregungen und bekommen (> zur Internetseite der Stadt Aachen).
Hierzu möchte ich hier zwei Punkte aufgreifen. Erstens warum ist dieses Info-Zelt nicht barrierefrei? Man wollte die Bürgerin / den Bürger einladen sich an der Diskussion zu beteiligen – aber nicht alle? Hat man an die Teilnahme von mobilitätseingeschränkten Menschen nicht gedacht? War eine einfache Holzrampe bei dem betriebenen Aufwand nicht mehr im Budget? Sehr schade, eine öffentliche Veranstaltung von dieser Wichtigkeit und auf diesem Niveau hat barrierefrei zu sein!
In Aachen leben statistisch gesehen ca. 22.000 Menschen mit einer Schwerbehinderung und davon sind ca. 4.250 Menschen ganz oder zumindest zeitweise auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen. Dieser Anteil an der Bevölkerung wird sich aufgrund der demografischen Entwicklung in den nächsten Jahren erhöhen. Unter diesem Gesichtpunkt wirft es kein gutes Licht auf den Veranstalter, wenn er seine Veranstaltung nicht barrierefrei gestaltet.
In diesem Zusammenhang steht auch der zweite Punkt. Hier geht es um den öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) und dabei besonders um die Barrierefreiheit. Gerade auf die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs sind ältere Menschen und Menschen mit einer Behinderung häufig angwiesen; und da dies zurzeit nicht bis gar nicht funktioniert, sprießen die Transportdienste für Rollstuhlfahrer wie Pilze aus dem Boden. Bei der Betrachtung des ÖPNV muss man sicher differenzieren und die beiden Hauptaspekte separat betrachten. Dabei handelt es sich auf der einen Seite um die Haltestellen (Infrastruktur) und auf der anderen Seite um die Fahrzeuge. (> zur VEP / BUS und Bahn)
Auf Bundes- und Landesebene hat der Gesetzgeber klar definiert, wie Barrierefreiheit (1) zu verstehen ist. Dies kann ganz kurz mit dem Begriff „selbstständig“ charakterisiert werden und beinhaltet damit auch „ohne fremde Hilfe“.
Im Zusammenhang mit der Verkehrsentwicklungsplanung steht die Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) (2) von 2013, in der bis 2022 eine „vollständige Barrierefreiheit“ als politische Zielsetzung durch den Bund als Gesetzgeber gefordert wird. Auf dieser Grundlage plant die Stadt Aachen als kommunaler Träger des ÖPNV etwa 40 der 438 Haltestellen innerhalb des Stadtgebietes (keine 10%) der Haltestellen barrierefrei zu gestalten. Damit wird die Zielvorgabe einer „vollständigen Barrierefreiheit“ wohl nur schwer zu erreichen sein.
Nun möchte ich auf den zweiten Aspekt zu sprechen kommen, die Busse der ASEAG. Unter der Vorgabe, dass der ÖPNV barrierefrei werden soll, und das bedeutet dass Menschen mit einer Behinderung die Busse eigenständig und ohne fremde Hilfe nutzen können, ist die jetzige Lösung einer Klapprampe nicht als zufriedenstellend anzusehen.
In seiner Veröffentlichung einer ad-hoc Arbeitsgruppe der Bundesarbeitsgemeinschaft ÖPNV der kommunalen Spitzenverbände (3) wird die Fahrerin / der Fahrer selbst als Teil des Systems ÖPNV bezeichnet, die / der auf Grundlage einer besonderen Schulung und der Dienstanweisungen die Klapprampen bedienen und so die Barrierefreiheit der Busse in diesem Aspekt sicherstellen und sich der Mensch mit Behinderung bedienen kann. (Anmerkung: Ich bediene mich lieber eines Hilfsmittels anstatt eines fremden Menschen mit eingener Persönlichkeit. Es mutet schon seltsam an, dass man sich eines Menschen bedienen soll).
Was bedeutet dies im Alltag? Ein üblicher Gelenkbus und erst recht der Doppelgelenkbus (Long Wajong) hat den Einstieg für Rollstuhlfahrer an der hintersten Türe. Die / der Fahrer/in muss den Platz verlassen! Also erst einmal alle anderen Fahrgäste mit Fragen, Fahrkartenwunsch bedienen oder einfach nur den Einstieg gewähren. Sodann den Bus vor unberechtigter Nutzung sichern, die Kasse und andere Wertgegenstände (z.B. Fahrkarten) vor Diebstahl sichern, seine privaten Dinge (Tasche, Jacke, Handy) sichern, nach hinten gehe, die Rampe ausklappen, die /den Rollstuhlfahrer/in einsteigen lassen, die Klappe wieder schließen, nach vorne gehen, wieder seinen/ihren Platz einnehmen, den Bus wieder vollständig betriebsbereit machen und sicher mit einiger Verspätung weiterfahren. Und wem wird dann die Schuld für die Verspätung gegeben?
Zurzeit wird es so gehandhabt, dass die Fahrerin / der Fahrer eben aufgrund einer Dienstanweisung durch die ASEAG nicht den Platz verlassen und eben nicht die Klapprampe bedienen. Der oben beschrieben Aufwand ist einfach zu groß!
Als Rollstuhlfahrer kann man nur hoffen, dass ein anderer Fahrgast oder ein zufälliger Passant die Klapprampe bedient und das auch noch schnell genug bevor die Tür wieder schließt! Und wie sieht es mit der Haftung bei Unfällen bei der Bedienung der Klapprampe aus? Was ist, wenn ein 13 jähriger Schüler die Rampe öffnet und dann ein Radfahrer durch die auf den Radweg ragende Rampe zum Sturz kommt? Was ist mit Verletzungen von noch schnell heraneilenden Fahrgästen, wenn eine Rentnerin mit besten Absichten die Klappe von innen öffnet und auf den Gehweg fallen lassen muss? Hier kann man nur allen nicht geschulten Helfern raten, dies nur mit einer guten Haftpflichtversicherung zu tun!
Nutzt hier die Stadt Aachen als Träger des ÖPNV aus, dass sie erst einmal primär für die Infrastruktur zuständig ist und die Betreiber des Busverkehrs für ihre Fahrzeuge und den Umgang mit den Rampen? Wird hier versucht, ein Ping-Pong-Spiel der Verantwortung auf den Rücken der Menschen mit Behinderung auszutragen?
Hier sei darauf hingewiesen, dass die Veröffentlichung der ad-hoc Arbeitsgruppe zur „Vollständigen Barrierefreiheit im ÖPNV“ nur eine Anwendungshilfe für und von kommunalen Trägern des ÖPNV sind. Im Falle eines Unfalles wird ein Richter auf Grundlage von Gesetzen (besonders (1) / (4) / (5) / (6) / (7)) die Situation aller Beteiligten bewerten. Und hier fallen gerade in der letzten Zeit die Urteile eindeutig in der Form aus, dass eine Barrierefreiheit im Sinne der betroffenen Menschen herzustellen ist.
Es kann nur ein dringender Apell an alle verantwortlichen Planer gerichtet werden zum Vorteil aller Nutzer des ÖPNV (Fahrgäste mit Kinderwagen, mit Gepäck und Lasten, ältere Menschen und Menschen mit zeitweiser und dauerhafter Mobilitätseinschränkung, mit sensorischen Behinderungen, etc.) einen zügigen Ausbau der Barrierefreiheit bei der Infrastruktur und den Fahrzeugen voranzutreiben. Nur so kann der ÖPNV eine tragende Rolle in einem vernetzten Verkehrssystem der Zukunft übernehmen. Eine Alternative wäre eine weitere Verdrängung einer wachsenden Gruppe in Richtung eines Individualverkehrs und damit eben keine Entlastung des Verkehrssystems. Aufgrund der demografischen Entwicklung werden wir 2050 als Fernziel für die Verkehrsentwicklungsplanung von wesentlich mehr Menschen mit einer Schwerbehinderung ausgehen müssen.
(ml | Juni 2015)
Anmerkungen
(1) Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG), Artikel 4
Die Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind. (> zum Gesetzestext)
(2) Personenbeförderungsgesetz (PBefG), zuletzt geändert durch Art. 2 Abs. 147 G v. 7.8.2013 I 3154. Den Vorschriften dieses Gesetzes unterliegt die entgeltliche oder geschäftsmäßige Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, mit Oberleitungsomnibussen (Obussen) und mit Kraftfahrzeugen. Als Entgelt sind auch wirtschaftliche Vorteile anzusehen, die mittelbar für die Wirtschaftlichkeit einer auf diese Weise geförderten Erwerbstätigkeit erstrebt werden. (> zum Gesetzestext)
(3) „Vollständige Barrierefreiheit im ÖPNV“, Hinweise für die ÖPNV-Aufgabenträger zum Umgang mit der Zielbestimmung des novelierten PBefG, erarbeitet durch eine ad-hoc Arbeitsgruppe der Bundesarbeitsgemeinschaft ÖPNV der kommunalen Spitzenverbände, September 2014, (> zum Text).
(4) UN-Behindertenrechtskonvention (> zum Text)
(5) Grundgesetz de Bundesrepublik Deutschland, Artikel 3, Absatz 3 (> zum Text)
(6) Landesbauordnung NRW (> zum Text)
(7) DIN 18040, Teil 3
… und hier eine Reaktion auf den Beitrag:
Guten Tag Herr Lambertz,
vielen Dank für Ihre Email zum Barrierefreiheit im ÖPNV und VEP!
Ich würde gerne auf ein paar Themen eingehen:
– Umbau von Haltestellen zur Herstellung der Barrierefreiheit:
Die 40 Haltestellen, die genannt werden, stellen natürlich nur eine erste Stufe der Umbauaktivitäten dar, wofür wir Fördermittel einwerben. Darüber hinaus werden im Rahmen anderer Straßenbaumaßnahmen (Kanalbau, Städtebauförderung, Oberflächensanierung etc.) betroffene Haltestellen nach Möglichkeit ebenfalls barrierefrei ausgebaut. Die personellen und finanziellen Möglichkeiten sind nicht uneingeschränkt vorhanden.
– Klapprampe:
Aus Sicht der Verkehrsunternehmen und der Verkehrsverbünde und auch vieler Experten wird hiermit die Barrierefreiheit hergestellt – hier gehen die Sichtweisen also sehr auseinander.
– Welche Regelungen gelten?
Für die barrierefreie Planung liegen DIN-Normen, Richtlinien und Empfehlungen vor, eine klare Vorgabe aus einem Werk gibt es nicht. Hinzu kommt, das schwerlich alle Ansprüche der verschiedenen Behindertengruppen zeitgleich entsprochen werden können, da sie sich teilweise widersprechen. Somit ist jede Planung eine Abwägung der Interessen.
Seit ca. einem Jahr gibt es eine Expertengruppe (unter Einbeziehung der Behindertenverbände), die landesweite Standards für die Barrierefreiheit im ÖPNV erarbeiten sollen. Bisher wurde kein Entwurf hierzu vorgelegt. Wir warten gespannt darauf. Ob eine Bewertung z.B. bzgl. der Rampen vorgenommen wird, weiss ich nicht. Eine derart wichtige Frage können wir aus meiner Sicht nicht nur für Aachen / im AVV-Raum diskutieren.
– VEP-Veranstaltung, fehlende Barrierefreiheit:
Ich möchte hier meinen Kollegen Herr Langweg um eine Antwort bitten; meine aber dass irgendetwas organisatorisch fehlgelaufen ist in der Umsetzung.
Für Fragen stehe ich gerne zur Verfügung!
Mit freundlichen Grüßen
Karin Liljegren
Stadt Aachen, Fachbereich Stadtentwicklung und Verkehrsanlagen
Abt. 61/300 Verkehrsmanagement