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Barrierefreiheit, und dann?

Liebe LeserInnen,

was ist barrierefrei? Was versteht „Mann/Frau“ darunter? Was versteht ein Mensch mit einem Handicap darunter, der etwas nutzen will? Und was versteht derjenige darunter, der mit diesem „Prädikat“ etwas verkaufen will?

Im Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG), Artikel 4 definiert der Gesetzgeber auf Bundes- und Länderebene den Begriff „Barrierefrei“ in einer für Menschen mit einer Behinderung sehr entgegenkommenden Weise:

Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind. <Link zum Gesetzestext> … und als Ergänzung auch wieder verlassen kann?

Nun, damit ist doch alles gesagt! Jeder kann Alles nutzen ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Jeder kommt alleine in den Bus, zum Arzt und ins Schwimmbad. Die Eltern mit einer Behinderung können an jeder schulischen Veranstaltung teilnehmen und die Kinder mit einer Behinderung  sind in der Kita/Schule so sicher wie im Kinderzimmer. Jeder kann alle Automaten bedienen, denn mit dem 2-Sinne-Prinzip klappt das ja alles automatisch und jedes Formular – nun, vielleicht auch das später!

Design for All, und wenn ich hier den Buchtitel von Aldous Huxley „Schöne neue Welt“ missbräuchlich nutze, man möge es mir verzeihen.

Nun, wenn wir uns die gebaute Umgebung anschauen wird vieles über die DIN 18 040 geregelt. Diese DIN-Norm Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen umfasst drei Teile:

– Teil 1: Öffentlich zugängliche Gebäude, Ausgabe: 2010-10
– Teil 2: Wohnungen, Ausgabe: 2011-09
– Teil 3:  Öffentlicher Verkehrs- und Freiraum, Ausgabe 2014-12

… und wenn man noch die Arbeitsstättenverordnung mit den vielen Technischen Regeln für die Arbeitsstätten (ASR), die Versammlungsstättenverordnung, die Verordnung zu den Verkaufsstätten, die Krankenhausbaurichtlinie, die Schulbaurichtlinie, die Bauordnungen der Länder, die Verordnungen für den Betrieb von …, nimmt, ja dann ist doch alles geregelt.

Als Mensch mit Behinderung findet man sofort eine passende Wohnung, man kommt überall hin und kann alles nutzen. Ich hatte diese Woche eine sehr spannende Fortbildung zu diesem Thema bei der Architektenkammer NRW – Barrierefreiheit und Brandschutz.

Die spannende Frage ist nämlich die, wenn ich überall hinkomme und alles nutzen kann als Mensch mit einer Behinderung, komme ich denn im Rettungsfall auch wieder raus und wie kann das geregelt werden.

Wie stellt man sich als Rollstuhlfahrer, als Mensch mit einer Sehbehinderung die Flucht aus dem 4. Obergeschoss bei einem Brand vor? Der Aufzug ist im Brandfall nicht zu nutzen, die Treppe ist nicht brauchbar, eine Notrutsche gibt es nicht.

Was ist das für ein Gebäude? Ist es eine Arbeitsstätte, an der ich als Mensch mit Behinderung jeden Tag bin oder bin ich dort nur im Bereich für Publikumsverkehr im 7. Obergeschoss? Wäre eine Patenschaft der Kollegen, die mich dann im Brandfall retten eine Lösung? Nein, bitte nicht. Ich habe zurzeit eine 50 – 60 Stunden-Woche. Welcher Kollege verzichtet auf Urlaub, Fortbildung, Freizeit und Krankheit um im Rettungsfall bei mir zu stehen? Wie viele Schichten müssten organisiert werden um das über eine Patenschaft zu regeln?

Selbst wenn man eine normale Arbeitswoche mit 40 Stunden plus Überstunden nimmt, ist es meiner Meinung nur schwer zu organisieren und es kann nur eine bauliche Lösung geben! Diese bauliche Lösung muss derart gestaltet sein, dass für den Mensch mit Behinderung eine Selbstrettung möglich ist oder er an einem sicheren Ort auf die Fremdrettung warten kann!

Wie kann ein solcher sicherer Ort aussehen? Welche Anforderungen müssen erfüllt sein, dass man sich als Behinderter im Brandfall einsperrt und alleine auf Rettung wartet? Wie lange würde man warten, 5 / 10 / 30 / 60 Minuten?

Steht man als Rollstuhlfahrer im Treppenhaus und wartet darauf wer zuerst da ist: der Rauch oder die Feuerwehr? Wartet man in einer speziellen Sicherheitszelle, die keiner findet und wenn, muss man erst den Putzwagen, die ausrangierten Möbel  und den Papiervorrat herausräumen? Ist es die aufgemöbelte Behinderten-Toilette, die dann aber doch nur auf jeder zweiten Etage sich befindet.

Hier hoffe ich auf viele Meinungen und Anregungen und eine rege Beteiligung an einer Diskussion. Denn Barrierefreiheit heißt nicht nur hinkommen und nutzen, sondern auch im Notfall wieder sicher das Gebäude verlassen! Und das ist ja schon im Normalfall nicht immer möglich.

(ml | Februar 2015)