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Barrierefreie Arztpraxen

Im Juni 2017 erschien auf der Internetseite www.rehacare.de * ein Bericht zur Barrierefreiheit von Arztpraxen. Danach sind von den ca. 200.000 Arzt- und Therapiepraxen in Deutschland ca. 80% nur eingeschränkt oder gar nicht zugänglich für Menschen mit einer Behinderung. Diese Einschätzung teilen viele Menschen mit einer schweren Behinderung schon lange. Für diese Menschen stellt sich nicht die Frage, welcher Arzt eine gute Reputation zur Behandlung der Erkrankung hat, sondern beschränkt sich auf den Aspekt, welcher Arzt überhaupt erreichbar ist. Von einer freien Arztwahl kann da schon lange nicht mehr gesprochen werden.

Doch gerade eine für alle Menschen zugängliche Gesundheitsversorgung ist ein wichtiger Aspekt von Teilhabe, wie sie durch die Behindertenrechtskonvention (BRK) der UN gefordert wird.

Aber wieso denn erst durch die Behindertenrechtskonvention, die am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft trat. Barrierefreiheit bedeutet zwar nicht nur rollstuhlgerecht und eindeutig ist der Umfang des Begriffes erst durch das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (BGG) definiert (siehe Fußnote BGG).
Aber wie hat man sich denn von Seiten der verantwortlichen Politiker, Krankenkassen, Verbänden und Ärzten die Gesundheitsversorgung der Menschen mit einer Behinderung vor der BRK vorgestellt? Der Zahnarzt behandelt den Rollstuhlfahrer auf dem Bürgersteig, denn der sitzt ja schon in einem Stuhl!

In Nordrhein-Westfalen und in den anderen Bundesländern werden die baulichen Aspekte durch die jeweilige Landesbauordnung geregelt. In NRW sind seit 1984 alle baulichen Anlagen und Einrichtungen, die nicht nur gelegentlich von Behinderten, alten Menschen und von Müttern mit kleinen Kindern aufgesucht werden, so zu errichten und zu unterhalten, dass sie von diesen Personen ohne fremde Hilfe zweckentsprechend genutzt werden können. Dies ist jedoch auf den allgemein zugänglichen Teil eines Gebäudes beschränkt, der dem Besucherverkehr offen steht; also nicht die private Wohnung und nicht der Heizungskeller.

Trifft dies auf Arztpraxen nicht zu? Suchen Menschen im höheren Alter oder mit einer Behinderung keine Arztpraxis mehr auf? Scheinbar nicht! Denn sonst ließe sich der große Anteil an Praxen, die nicht zugänglich sind, sicher nicht erklären.

Wer bei der Errichtung und Unterhaltung einer baulichen Anlage, und hierzu zählt auch ein Investitionsprojekt wie ein Gebäude mit Arztpraxen, gegen die Vorgaben der Landesbauordnung verstößt, der hat keinen Bestandsschutz.
Kein Bestandsschutz bedeutet in dem Fall, dass die Praxis, die nach 1984 in NRW errichtet wurde (Neubau und Nutzungsänderung) für Menschen mit einer Behinderung nicht zugänglich ist, ist mit sofortiger Wirkung zu schließen! Oh! – wer traut sich dies rechtlich durchzusetzen? Wenn es zutrifft, dass 80% der Praxen nicht oder nur eingeschränkt zugänglich sind, ist wahrscheinlich ein Drittel bis zur Hälfte der Praxen zu schließen.

Dies ist sicher nicht sinnvoll und dies will auch keiner!

Nun, das ist ein Problemfeld, das auch langsam bei Politikern anzukommen scheint. So fordert z.B. Uwe Schummer (Behindertenbeauftragter der CDU/CSU Bundestagsfraktion) ein Zuschussprogramm aus Steuermitteln, damit Ärzte ihre Praxis barrierefrei auf- und ausbauen können. Hier frage ich mich allerdings, warum erst 2017 und warum ein Zuschussprogramm aus Steuermittel wenn es doch die gesetzliche Forderung schon lange gibt? Erst wird mal locker gegen die Vorgaben der Landesbauordnung verstoßen und dann soll die Gemeinschaft mit Steuermitteln dafür aufkommen – vom Prinzip ja ein schon bekannter Vorgang: Gewinne werden privat vereinnahmt, Belastungen sollen sozialisiert werden.

Wenn man den eingangs erwähnten Bericht weiter ließt, stößt man am Ende auf den Link zu einen ergänzenden Interview mit Dr. Peter Müller, Vorsitzender der Stiftung Gesundheit, welche das Projekt „Barrierefreie Praxis“ mit ihrer Fördergemeinschaft 2009 ins Leben gerufen hat.

Hieraus zitiert: „Manche Ärzte haben uns aber auch schon mitgeteilt, dass sie gar nicht barrierefrei sein wollen – weil die vornehmliche Behandlung von Patienten mit Behinderungen nicht wirtschaftlich sei.“

Im Klartext, man verdient nicht genug mit einer barrierefreien Arztpraxis wenn dann nur noch alte Menschen oder Menschen mit einer Behinderung kommen. Hier sind also Menschen, die aufgrund ihres geringen Einkommens weniger privat zu zahlende IGeL-Leistungen in Anspruch nehmen, nicht gewünscht. Nun, wenn dann die Vorgaben der Landesbauordnung (LBO) zur Zugänglichkeit von Einrichtungen des Gesundheitswesen, welche übrigens bezüglich der Notwendigkeit des barrierefreien Zugangs in unterschiedlichen Ausgaben der LBO beispielhaft erwähnt wurden, in der Vergangenheit bei der Planung, der Prüfung der Bauanträge und bei der Errichtung berücksichtigt worden wären, gäbe es das Problem der Konzentration von den wirtschaftlich eingeschränkt leistungsfähigen Patienten in den wenigen zugänglichen Praxen nicht.

Also liebe Praxisbetreiber, je schneller alle Praxen barrierefrei werden, um so schneller seid ihr die vielen Menschen mit einer Behinderung los. Vielleicht ist dies Ansporn genug?

In Österreich haben Arztpraxen barrierefrei zu sein! Sind sie es trotz Zumutbarkeit nicht, drohen Entschädigungszahlungen! Liebe Ärzte, den Gewinn kann man nicht nur durch Steigerung der Einnahmen erhöhen, sondern auch durch Senkung der Kosten (Entschädigungszahlungen). Diese einfachen Zusammenhänge kannte Hippokrates von Kos bestimmt auch schon. Es wird Zeit auch in Deutschland über Sanktionsmöglichkeiten bei ungenügender Barrierefreiheit zu diskutieren.

(August 2017|ml)

 

* www.rehacare.de ist ein Informationsportal als ganzjährige Ergänzung der internationalen Fachmesse zu Rehabilitation und Pflege der Messe Düsseldorf GmbH.

 

Fußnote BGG
Barrierefreiheit wird in § 4 BGG vom 1. Mai definiert: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.“