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Statistik

Fast unbemerkt und in der Flut von aktuellen Nachrichten (Corona, Wirtschaftskrise, Wahlkampf in den USA, Rassismus, Diskriminierungen und Antisemitismus, Kriege und Flüchtlinge) beinahe untergegangen, hat das Statistische Bundesamt (destatis.de) eine neue Pressemitteilung zum Thema Schwerbehinderung herausgegeben. Link

Ein kurzer Hinweis zur Pressemitteilung vorab. Der Anteil der Menschen mit einer Schwerbehinderung im Jahre 2019 ist im Vergleich zum Jahre 2017 leicht gestiegen (ca. 1,8 Prozent). In Deutschland leben nun 7,9 Millionen Menschen (9,5 Prozent der gesamten Bevölkerung) mit einer anerkannten Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung von mehr als 50%.

Und nur diese Menschen tauchen in der Statistik auf. Menschen mit einer von den Versorgungsämtern offiziell anerkannten Schwerbehinderung, erfasst nach Ursache, Alter und Geschlecht, differenziert betrachtet und ausgewertet. Eine wichtige Information zu unserer Gesellschaft und es sind ca. 10 Prozent der Menschen betroffen.

Aber es sind eben auch nur die Menschen, die einen Antrag gestellt haben und nach den strengen Kriterien der Versorgungsämter anerkannt wurden. Eine Schwerbehinderung wird festgestellt, wenn die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. 

Dies bedeutet aber im Umkehrschluss, dass alle altersbedingten Einschränkungen der Sinneswahrnehmung, der allgemeine körperliche, geistige und seelische Zustand eines 70, 80 oder 90 Jahre alten Menschen eben nicht als Schwerbehinderung anerkannt werden. Diese entsprechen in der Regel eben lediglich dem altersbedingten Zustand.

Ebenso wenig werden kurzfristige Einschränkungen nach einer Operation, Unfall oder Erkrankung anerkannt, diese dauern in der Regel nicht länger als sechs Monate an.

Auch werden situationsbedingte Einschränkungen nicht berücksichtigt. Der Kinderwagen, das Kleinkind mit dem Roller oder Rädchen werden in dieser Statistik nicht erfasst. Auch die Kür mit höchsten Schwierigkeitsgraden, wie Zwillinge im Kinderwagen, das mittlere Kind an der Hand und die/der Große mit dem Rädchen hinterher, werden in keiner Statistik erfasst.  

Eine schwere Form des im Bauwesen oder in der Straßenverkehrsordnung bekannten Begriffs „Behinderung“ stellt keine Schwerbehinderung dar. Lasten, Waren oder Gepäck zu transportieren kann in vielen Situationen des Alltags eine unzumutbare Situation sein, wird aber ebenfalls nicht berücksichtigt.

Dies ist auch leider unabhängig von der Altersgruppe. Eine Kombination von altersbedingte Einschränkungen plus Kinderwagen oder Gepäck stellen nach den Vorgaben der Versorgungsämter ebenfalls keine Schwerbehinderung dar, auch wenn wir Alle das anders sehen.

Warum stelle ich die Pressemitteilung des Bundesamtes für Statistik hier in diesen Zusammenhang? Es muss deutlich sein, das im Alltag, in der Stadt, beim Einkauf, im Kino oder im Theater, bei der Benutzung von ÖPNV und DB, beim Arztbesuch, in KiTa oder Schule, auf dem Amt, in der Kneipe oder Restaurant, auf Reisen und Ausflügen, eben in der allgemeinen Lebenswirklichkeit viel mehr Menschen auf eine barrierefreien Umgebung angewiesen sind, als die ca. 10% der Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung.

Denn die Barrierefreiheit ist zwar für diese 10% der Bevölkerung ein Muss, wäre aber wie gezeigt für weitere ca. 40% wünschenswert bis notwendig und für den Rest der Bevölkerung bedeutete es einfach mehr Komfort und Lebensqualität.

Und wenn man sich nun die Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes etwas genauer ansieht, stellt man fest, dass gerade einmal 3% der Menschen mit einer Behinderung geboren werden oder diese in den vier ersten Lebensjahren auftritt.

Also 97% der Menschen mit einer Behinderung erwerben diese später im Laufe ihres Lebens. Bei jungen Menschen in der Altersgruppe zwischen 6 und 24 Jahren (Schule, Studium, Ausbildung) ist der Anteil mit durchschnittlich 1,9% recht gering.

Deutlich nimmt der Anteil in der Altersgruppe ab 55 Jahre zu, in der Altergruppe ab 65 Jahre ist der Anteil der Menschen mit einer Schwerbehinderung mit 22% schon recht hoch. Bei Menschen in der Altersgruppe über 80 Jahre haben ca. 35% aller Menschen eine anerkannte Schwerbehinderung.

Nur 1% der Behinderungen treten nach Unfällen und durch eine Berufskrankheit auf, der weitaus größte Anteil wird durch Krankheit verursacht.

Je älter wir werden, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir durch eine Krankheit eine andauernde Einschränkung unserer Fähigkeiten erleiden, die deutlich von den ohnehin schon nachlassenden Fähigkeiten im Alter zum Negativen abweichen.

Nicht nur, dass jeder betroffen sein kann: Es ist davon auszugehen, dass zunehmend Menschen davon betroffen sein werden. Insbesondere auf Grund des demographischen Wandels wird der Anteil der Menschen mit höherem Alter an der Gesamtbevölkerung deutlich zunehmen. Derzeit ist der Anteil der Menschen, die älter als 65 Jahre sind, über 22% und wird mit den geburtenstarken Jahrgängen weiter zunehmen.

Unter diesen Gesichtspunkten wundert es mich um so mehr, dass das barrierefreie Bauen nicht ein wichtiger Bestandteil des Architekturstudiums ist. Ohne umfangreiche Kenntnis und Erfahrung ist es für junge Architekten sehr schwer, vollumfänglich die Forderungen umzusetzen. Ich vertrete aus diesem Grund immer noch die Meinung, dass das barrierefreie Bauen eines Sachverständigen bedarf, wie der Wärme- oder der Brandschutz.

Dies besonders, wenn im Bestand nicht nur die Vorgaben der DIN 18040 umzusetzen sind, sondern mit kreativen Lösungen eine gute Gestaltung für alle entwickelt werden muss.

(Juli 2020 | ml)