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Barrierefreiheit Teilhabe

Geistige Ausrutscher

Ideen werden oft spontan und unkompliziert umgesetzt und können auch pfiffige Lösungen für den Alltag sein. Ein Geistesblitz, schnell ausgesprochen und einfach gemacht; eben eine spontane und kreative Lösung für die Probleme des Alltags.

Ich will jetzt die spontane Entwicklung von Lösungen nicht schlecht reden. Nein, im Gegenteil! Gerade durch kreative Lösungen der oft unterschätzten Alltagsintelligenz, fachübergreifend und innovativ können hervorragende Lösungen entstehen und Entwicklungen angestoßen werden.

Aber ohne diese Ideen, nach der ersten spontanen Zündung, umfänglich geistig zu durchdringen und von allen Seiten zu betrachten, werden daraus aber auch schnell mal geistige Ausrutscher. Manchmal witzig, harmlos oder auch gefährlich. Aber in der Regel immer auf der Basis der persönlichen Lebenserfahrungen und damit oft zu einseitig und begrenzt.

Es ist halt sehr schwer, das zu denken, was man nicht kennt. Etwas, was den Alltag nicht durchdrungen hat, etwas, was noch nicht verinnerlicht wurde, fällt bei den spontanen Ideen oft hinten rüber.

Auf drei aktuelle Beispiele, die sicher durch die Unsicherheit und Einschränkungen der beängstigenden Pandemie beeinflusst sind, möchte ich hier näher eingehen, ein Supermarkt, ein Testzentrum, eine politische Forderung.

Der Supermarkt ist ein klassischer Markt des alltäglichen Bedarfs, breites Angebot an Lebensmitteln, ein bisschen Non-Food und zusätzlich verschiedene kleine Läden im Eingangsbereich, ein Café, Imbiss, Blumen, Zeitschriften und Postannahmestelle. Ein typischer Supermarkt am Rand der Städte, wie man sie kennt. Zur Umsetzung der Corona-Schutzmaßnahmen hat man die Anzahl der Kunden begrenzen müssen und hierzu die bereitgestellten Einkaufswagen reduziert. Einlass wurde nur mit einem solchen Wagen gewährt. Eine einfache und nachvollziehbare Regelung.

Bei großen Kundenandrang musste man Platz für eine Warteschlange unter Beachtung der Abstandsregelung bieten. Was bot sich da an? Kurzerhand wurden die Parkplätze für Menschen mit einer Schwerbehinderung gesperrt, Ersatz wurde nicht eingerichtet. Nutzer*innen von Rollstühlen müssen doch während einer Pandemie nicht einkaufen und die Auflagen der Baugenehmigung zählen in einer solchen Situation ja wohl auch nicht mehr, oder? (3)

Das zweite Beispiel hat hier schon eine andere Qualität. Kurz vor Weihnachten 2020 mitten im zweiten Lockdown zur Begrenzung der Infektionsraten sind einige Geschäftsleute auf eine findige Idee gekommen. In den freistehenden Räumlichkeiten einer Diskothek im Kellergeschoss eines Gebäudes in der Innenstadt wurde durch eine gewinnorientierte Kapitalgesellschaft (UG, haftungsbeschränkt) in kurzer Zeit ein Testzentrum eingerichtet. Für 40 € (1) ein Schnelltest vor der Weihnachtsfeier mit der Familie. Gut gemeint, schlecht gemacht. Schon seit der Landesbauordnung von 1984 sind Einrichtung des Gesundheitswesens unabhängig vom rechtlichen Status des Trägers barrierefrei umzusetzen. Diese Forderung ist nochmals durch die aktuelle Landesbauordnung bestärkt worden. Ist dieses Testzentrum keine Einrichtung des Gesundheitswesen oder eine Geschäftseinrichtung für den täglichen Bedarf? In beiden Fällen hätte es barrierefrei sein müssen oder aber hätte im Zusammenhang mit dem Lockdown seine Geschäftstätigkeit einstellen müssen.

Was spricht dafür, für eine gewinnorientierte Kapitalgesellschaft die Barrierefreiheit nicht zu fordern. Was trieb die Spitzen der städtischen Bauordnung(2) dazu an, in den kurzfristig durchgeführten Abstimmungen mit dem Betreiber des Testzentrums auf eine Ausnahmeregel für Bestandsbauten zurückzugreifen? Insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass Herr Dr. Michael Ziemons, Gesundheitsdezernent der StädteRegion Aachen vor einer falschen Gewissheit bei Schnelltest warnt(2). Sind Corona-Tests für Menschen mit einer Mobilitätseinschränkung uninteressant. Wenn die Nutzer*innen eines Rollstuhls nicht die Treppe runter kommen, dann haben diese halt Pech gehabt! Ist dies eine adäquate Haltung der Bauordnung zum Thema Barrierefreiheit in öffentlich zugänglichen Gebäuden? Diese sehr gr0ßzügige Auslegung von gesetzlichen Vorgaben ist schon eine Frechheit, aber es geht ja nur um Menschen mit einer Behinderung.

Ein drittes Beispiel wurde gerade am 4. Advent 20.12.2020 auf der Internetseite „Tagesschau.de“ (Link: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/union-fraktion-bundestag-onlinehandel-101.html) veröffentlicht. „CDU-Abgeordnete für eine Paketsteuer“. In der Pandemie mussten viele Geschäfte schließen und die Bürger sind aufgefordert die Kontakte zu verringern und auch bitte schon vor dem Lockdown das enge Gedränge in den Fußgängerzonen und Geschäften zu meiden. Viele örtliche Händler haben aufgrund der Erfahrung vom Frühjahr mit dem ersten Lockdown zusätzlich zum Ladenlokal noch einen Onlinehandel eingerichtet. Jetzt sollen alle Händler, die über das Internet ihre Waren vertreiben, eine zusätzliche Steuer für die Wiederbelebung der Innenstädte bezahlen.

Dies erinnert mich stark an die Anfänge des Internethandels, Geschäfte hatten die Schaufenster zugeklebt um gegen den Internethandel zu demonstrieren. Gerade mal 10% dieser Geschäfte waren für mich als Rollstuhlnutzer zugänglich, im Umkehrschluss waren 90% der Läden nicht nutzbar. Wieder wird eine Maßnahme gefordert, die eigentlich am Kern des Problems vorbeigeht und Menschen mit einer Schwerbehinderung zusätzlich belastet. Wenn ich als Rollstuhlnutzer an die überfüllten Fußgängerzonen, an die Treppen vor den Geschäften, nicht rollstuhlgerechte Parkplätze für Menschen mit einer Schwerbehinderung, den Problemen mit dem ÖPNV und Rollstuhl denke, ist gerade der Onlinehandel eine sehr willkommene Alternative. Es müssen ja nicht immer die großen Anbieter sein, vielleicht nutzt man ja das Angebot der lokalen Anbieter. Aber man wählt bequem aus, bekommt die Sachen mit einem Lächeln nach Hause gebracht und das alles vollumfänglich barrierefrei.

Und solange die Innenstädte nur bedingt erreichbar sind und nicht besonders attraktiv, wird die Steuer wohl nicht besonders zielführend sein. Wenn ich an den Aufwand denken, den man als Nutzer*in eines Rollstuhls betreiben muss, um die Erledigung des Alltages neben einer vollen Berufstätigkeit noch zu bewältigen, werde ich für meinen Teil den Onlinehandel sicher vermehrt nutzen. Komisch, dass diese Politiker nicht mit gleicher Vehemenz Sanktionen bei Verstößen gegen die Barrierefreiheit fordern.  Über die intellektuellen Kapazitäten und Kompetenzen bei so manchen Politikern mache ich mir da meine eigenen Gedanken.

Die Beispiele zeigen zumindest in meiner persönlichen Betrachtung und Darstellung, wie wenig inklusiv das Bild der Gesellschaft ist. Wie schnell die Barrierefreiheit unberücksichtigt bleibt und wenn man ehrlich ist, wie wenig sie interessiert.

Es ist schon erschreckend lange her, dass ich den letzten Beitrag geschrieben habe und mein Vorsatz einer monatlichen und auch aktuellen Veröffentlichung von Beiträgen ist leider ziemlich vernachlässigt worden. Zum Schluss bleibt mir noch allen Leser*innen schöne Feiertage und viel Gesundheit für das Neue Jahr zu wünschen.

(Dezember 2020 | ml)

(1)  In Vaals (NL) kostet dieser Schnelltest barrierefrei nur die Hälfte! Leider ist auch das grenzüberschreitende Leben im Dreiländereck stark eingeschränkt.

(2)  siehe „Aachener Nachrichten“, Ausgabe Aachen Stadt vom 15.12. und 19.12.2020

(3) Dieses Vorgehensweise wurde von der Geschäftsführung in der Zwischenzeit geändert