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Allgemein Barrierefreiheit Teilhabe

Offener Brief an Jürgen Dusel

Ein offener Brief (1) an den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Herr Jürgen Dusel.

Sehr geehrter Herr Dusel,

ich möchten Ihnen erst einmal meinen Dank für Ihren Einsatz für die Menschen mit einer vorhandenen oder auch kommenden körperlichen, seelischen oder geistigen Einschränkung aussprechen. Damit leisten Sie einen wichtigen Beitrag dazu, dass es nicht zu einer Behinderung kommt.

Bevor ich mir erlaube, mein Anliegen vorzutragen, möchte ich hier kurz ein paar Worte zu meiner Person sagen. Ich bin 55 Jahre alt, vor fast dreißig Jahren an der Multiplen Sklerose erkrankt und nutze nun schon seit 11 Jahren einen Rollstuhl. Ich habe in Aachen ein Architekturbüro und bin als Sachverständiger in der Kommission Barrierefreies Bauen der Stadt Aachen tätig. Aufgrund meiner körperlichen Einschränkungen komme ich häufig an den Punkt, dass die baulich gestaltete Umwelt mich in meiner Lebensführung leider deutlich behindert und dieser Punkt hat mich zu diesem Brief veranlasst.

Damit bin ich auch schon bei meinem Anliegen und hierzu hole ich kurz aus. Schon 1984 trat in NRW die erste Landesbauordnung in Kraft, die im §51 – Bauliche Maßnahmen für besondere Personengruppen, Vorgaben zur Errichtung: „Bauliche Anlagen sowie andere Anlagen und Einrichtungen, die von Behinderten, alten Menschen und Müttern mit Kleinkindern nicht nur gelegentlich aufgesucht werden, sind so zu errichten und zu unterhalten, dass sie von diesen Personen ohne fremde Hilfe zweckentsprechend genutzt werden können“ formuliert hat.

Im Absatz 2 folgt eine beispielhafte Aufzählung von Einrichtungen, bei denen diese Vorgaben für den Bereich des allgemeinen Besucherverkehrs anzuwenden sind. (2)

Diese Formulierung im Gesetzestext scheint aus heutiger Sicht, also nach Jahrzehnten der Weiterentwicklung unserer Gesellschaft und insbesondere der Bedeutung und dem Ansehen von Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Einschränkung, etwas überkommen in der Wortwahl, aber der Kern der Aussage ist im Ansatz noch heute zu verstehen und sicher eingeschränkt zu befürworten. In der aktuellen Bauordnung des Landes NRW heißt es im §2, Absatz 10: „Barrierefrei sind bauliche Anlagen, soweit sie für alle Menschen, (insbesondere für Menschen mit einer Behinderung,) (3) in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind“.

Nun könnte man als Rollstuhlfahrer ja erwarten, dass alle Gebäude, die nach 1984 in NRW, bzw. bei ähnlicher Entwicklung der Musterbauordnung und der Landesbauordnungen der anderen Bundesländer, errichtet wurden bzw. durch eine Nutzungsänderung nachträglich eine Nutzung mit einem öffentlichen Angebot bekommen haben, ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.

Aber leider weit gefehlt! Auch noch nach 35 Jahren seit dem die oben erwähnte LBauO in Kraft trat, kommt man bei verschieden baulichen Anlagen, die nach diesem Datum errichtet bzw. eingerichtet wurden, nicht herein.

Ein paar Beispiele aus Aachen:

  • Ein Kino, dass 1989 errichtet wurde und in dem neben Filmvorführungen noch sonstige Veranstaltungen stattfinden, gerne organisiert von politischen Parteien, ist nur über eine Treppe mit 16 Stufen zu erreichen.
  • Ein Konzertraum, dessen Genehmigung der Einrichtung Anfang der 90ziger erteilt wurde, ist nur über sieben Stufen zu erreichen.
  • Ein Teil eines Krankenhauses, das im letzten Jahr sein 25jährige bestehen feierte, in dem die Voruntersuchungen zu geplanten Operationen stattfinden, ist nur über fünf Stufen erreichbar.
  • Viele Gebäude aus den 80 und 90ziger Jahre mit Arztpraxen, Geschäfte, Parkhäuser und so weiter sind mit dem Rollstuhl nicht erreichbar.
  • und so weiter

Und hier wird in erster Linie nur die Erreichbarkeit mit dem Rollstuhl angesprochen. Damit ist dem Barrierefreien Bauen, wie es zu verstehen ist, und schon mit der DIN 18024/18025 oder aktuell mit der DIN 18040 hilfsweise definiert wird, bei weitem nicht genüge getan. In unserer gebauten Umwelt finden also Verstöße gegen geltendes Recht im großen Maßstab seit Jahren statt und es scheint, niemand interessiert sich dafür und Sanktionsmöglichkeiten gibt es sowieso nicht.

Leider betrifft dies nicht nur private Bauvorhaben sondern auch eine Vielzahl von öffentlich zugängige Gebäude und öffentliche Veranstaltungen.

Besonders interessant wird es, wenn man sich das Protokoll zur UN-Behindertenrechtskonvention ansieht. Hier wird bei Neubauten die bedingungslose Barrierefreiheit gefordert und für den Bestand, unabhängig von den Besitzverhältnissen, eine Anpassung in einem zu planenden Zeitrahmen. Hiervon kann ich leider in den Bauordnungen und bei den aktuellen Diskussionen noch nichts finden.

Vor kurzem war ich mit dem Wagen von Aachen nach Berlin unterwegs, die Tankstelle am Autohof war nicht barrierefrei und ich hätte mit dem Rollstuhl die Kasse nicht erreichen können. Wem gebe ich denn dann meine Bankkarte einschließlich Geheimzahl oder Bargeld? Dem Handwerker, dem Gebrauchtwagenhändler oder dem Lastkraftfahrer, die alle zufällig am Rastplatz waren. Wer übernimmt die Haftung, wenn die Person sich doch nicht als vertrauenswürdig herausstellt?

Am Ziel angekommen, ein großes städtisches Museum in der Innenstadt von Berlin, gab es keine Sonderparkplätze für Menschen mit einer Schwerbehinderung, der Parkscheinautomat konnte als Rollstuhlfahrer nicht bedient werden und ich konnte eine Passantin überreden ihr Fahrrad abzustellen und mir einen Parkschein zu ziehen. Der Zugang zum Museum war für Rollstuhlnutzer separiert, die Rampe deutlich zu steil und im Gebäudeinnern konnte die Mitarbeiterin den Plattformlift nicht bedienen. Sie hatte zwar die Schlüssel, aber keine Kompetenz. Zum Glück konnte ich sie überzeugen, dass ich das selber machen kann, sonst hätte ich vor der Fahrt nach Aachen (ca. 650 km) auf das Mittagessen und einen Kaffee verzichten müssen.

Nun möchte ich gerne konkret werden und erlaube mir meine Bitten zu formulieren. Nach den hier aufgezeigten Punkten muss eigentlich klar sein, dass ein vielleicht wohl gemeinter Gesetzestext ohne Sanktionsmöglichkeiten nicht ausreicht. Es bleibt ein zahnloser (Papier-)tiger ohne rechtliche Möglichkeiten, die Behebung der Mängel im Barrierefreien Bauen als Nutzer einzufordern. Leider betrifft dies erschreckend häufig auch noch neu zu errichtende bauliche Anlagen und Veranstaltungen.

Für den Bestand in NRW seit dem Baujahr 1984, für die anderen Bundesländer in Abhängigkeit von der jeweiligen Landesbauordnung, schlage ich in Anlehnung an das österreichische Recht, eine Zumutbarkeitsprüfung vor, die verbindlich für die aktuelle Nutzung unter Beachtung der örtlichen Bedingungen und der wirtschaftlichen Situation des Nutzers / Eigentümers eine Prüfung zur Barrierefreiheit durchführt und damit eine Klärung herbeiführt. Damit verbunden sind Entschädigungsansprüche des Besuchers, der aufgrund seiner körperlichen Merkmale ausgesperrt bleibt. Der Aspekt der sich zeitlich ändernde ökonomischen Situation muss dabei eine Rolle spielen und berücksichtigt werden. Diese Prüfung ist also nicht nur bei Änderungen des Nutzer oder der Nutzung durchzuführen, sondern eventuell auch in zeitlichen Abständen zu wiederholen.

Darüber hinaus sollen zukünftig nur noch Veranstaltungen öffentlich gefördert werden, wenn sichergestellt ist, dass die Anforderungen an eine barrierefrei Veranstaltung vollumfänglich umgesetzt werden. Dies hat auch die steuerliche Relevanz von Spenden und Sponsoren zu umfassen. Sollte dagegen verstoßen werden, ist der Veranstalter zu verpflichten die Förderung zu erstatten. Es kann nicht sein, dass öffentlich geförderte Veranstaltungen stattfinden, bei denen nicht die jeweiligen Sonderbauverordnungen vollumfänglich beachtet werden. Brandschutz ist sicher und unstrittig wichtig, aber es ist nicht alles!

In diesem Zusammenhang sollte dringend über die Regelung der „Gemeinnützigkeit“ nachgedacht werden. So ist gerichtlich einer Loge die Gemeinnützigkeit aberkannt worden, weil dort keine Frauen aufgenommen wurden. Mit der gleichen Argumentation und mit den gleichen Normenbezügen sind alle Gemeinnützigkeiten abzuerkennen, wenn dort keine Menschen mit einer körperlichen, geistigen oder seelischen Einschränkung teilnehmen können. Die Regelungen zur Parteienfinanzierung sind ähnlich zu beurteilen.

Sollten Einrichtungen oder Veranstaltungen des öffentlichen Lebens nicht barrierefrei sein, ist rechtzeitig und deutlich in den Ankündigungen und mit einer entsprechenden Beschilderung darauf hinzuweisen. Und hier meine ich durchaus nicht nur die notwendigen Tankstellen an der Autobahn.

Es ist mir durchaus klar, dass mit Ihrer Position keine gesetzgeberische Möglichkeiten oder Weisungskompetenzen verbunden sind, aber mir fehlt hier eine starke perspektivische Vorgabe.

Aufgrund der gesetzlichen Rahmenbedingen sollte es in der Zwischenzeit zwar möglich sein, als Mensch mit einer körperlichen, seelischen oder geistigen Einschränkung eine bedingungslose Teilhabe in allen Lebensbereiche in Anspruch nehmen zu können; aber leider ist dies immer noch nicht der Fall. Es gibt so viele Beispiele und Situationen, ob auf Reisen, Museums-, Theater- oder Konzertbesuchen, in der Arbeitswelt, bei Restaurants, Gaststätten und Hotels, Arzt- und Therapiepraxen, Krankenhäusern, Büros und Kinos, etc. Selbst bei der Teilnahme bei politischen Veranstaltungen oder der Parteiarbeit muss man immer wieder hoffen, dass man als Rollstuhlfahrer herein kommt. Die Barrierefreiheit ist leider noch weit davon entfernt selbstverständlich gedacht und berücksichtigt zu werden.

Deshalb möchte ich Sie eindringlich bitten, sich verstärkt für Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen einzusetzen. Es darf keine Frage der barrierefreien Gestaltung oder des Umfanges zur Schaffung einer barrierefreien Umwelt sein, dies ist alternativlos und bedingungslos vollumfänglich umzusetzen.

Eine Treppe ist nicht Gott gegeben und erst recht nicht als Instrument der Diskriminierung gefordert. Leider funktioniert die Straßenverkehrsordnung ja auch nur mit dem berühmten „Knöllchen“ und nicht aufgrund von Einsehen und Verständnis. Sanktionsmöglichkeiten sind ein unabdingbares Instrument gesetzliche Regelungen durchzusetzen.

Ich möchte diesen offenen Brief mit der Hoffnung auf Verständnis meiner Positionen und auf eine tatkräftige Unterstützung schließen.

Ich bedanke mich im Voraus und freue mich auf Ihre Antwort.

(September 2019|ml)

(1)     Dieser Brief wir parallel auf der Internetseite www.rollialltag.de veröffentlicht.

(2)     Gerade diese beispielhafte Aufzählung führte in der Vergangenheit immer wieder dazu, dass Investoren und Bauherren zum Schluss kamen, dass sie ja gerade nicht gemeint sind.

(3)     Ich habe mir erlaubt einen Teil des Gesetztextes in Klammern zu setzen. Die Vorgängerversion der letzten Landesregierung hatte diesen Zusatz nicht. Nach meinem Verständnis unseres Grundgesetztes ist der Zusatz auch nicht notwendig und die besondere Hervorhebung einer Menschengruppe nicht angeraten.