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Gedenktag

Gedenktag

Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Dieses Lager ist zum Symbol der Verbrechen in Deutschland in der Zeit von 1933 bis 1945 und damit zum Sinnbild des Holocaust geworden. Seit 1996 ist der 27. Januar bundesweit Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.

In diesem Jahr wurde bei der offizieller Gedenkfeier im Bundestag erstmals der Verfolgung, Zwangssterilisation und Tötung von Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung im Rahmen des Euthanasie-Programms gedacht.

http://www.tagesschau.de/inland/bundestag-gedenken-105.html

Aus den einleitenden Worten zur Wanderausstellung: „erfasst, verfolgt, vernichtet – Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus“:

„Bis zu 400.000 Menschen wurden zwischen 1933 und 1945 zwangssterilisiert, mehr als 200.000 wurden ermordet. Bei der Selektion der Patienten wurde der vermeintliche „Wert“ des Menschen zum leitenden Gesichtspunkt. Ärzte, Pflegende und Funktionäre urteilten nach Maßgabe von „Heilbarkeit“, „Bildungsfähigkeit“ oder „Arbeitsfähigkeit“ über die ihnen Anvertrauten. Dabei fand die Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung auffälliger, störender und kranker Menschen innerhalb des damaligen Anstalts- und Krankenhauswesens statt.“.

Am 27. Januar 2014 wurde die Ausstellung im Deutschen Bundestag eröffnet, Organisation und Durchführung, Ansprechpartner DGPPN: Prof. Dr. Dr. Frank Schneider, Aachen. In der Zeit von 28.08.2015 bis 25.10.2015 wurde die Ausstellung im Centre Charlemagne, Aachen gezeigt.

http://www.dgppn.de/dgppn/geschichte/nationalsozialismus/wanderausstellung.html
http://www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_medien/images/Psych_im_Nat/Wanderausstellung/Broschuere_MenschenRegion_Aachen.pdf
http://www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_medien/images/Psych_im_Nat/Wanderausstellung/Flyer_Einladung_Eroeffnungsveranstaltung_Wanderausstellung_Aachen.pdf

Beispiele in der Ausstellung zeigen, dass es oft Kinder, Eheleute, Familienmitglieder aus der Mitte der Gesellschaft waren, die durch diese Aktion aus der Gesellschaft aussortiert und getötet wurden.

Die erschreckende Tatsache dabei ist die, dass die Täter nicht wenige waren und nicht nur Angehörige eines engen Kreises von Parteifunktionären. Nein, im Gegenteil, involviert waren Ärzte, die vielen Mitarbeiter von Kinderkliniken und Krankenhäusern, Psychiatrien, Gesundheitsämtern der Stadtverwaltungen, Juristen (in Aachen waren 60% der Juristen Mitglied der NSDAP), Busfahrer der „grauen Busse“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Denkmal_der_grauen_Busse), Mitarbeiter der zentralen Tötungsanstalten wie z.B. Hadamar und Mitarbeiter der vielen Kliniken, in denen in Eigenverantwortung die Zwangssterilisationen und Tötungen durch gezielte Mangelernährung bis zum Hungertod und durch Überdosen von Medikamenten durchgeführt wurden.

„Nach einer erhalten gebliebenen internen T4-Statistik wurden in der Tötungsanstalt Hadamar in nur acht Monaten zwischen dem 13. Januar 1941 und dem 1. September 1941 insgesamt 10.072 Menschen durch das Gas Kohlenmonoxid ermordet, in der Sprache ihrer Mörder: desinfiziert. Nach übereinstimmenden Zeugenaussagen wurde im Sommer 1941 die Verbrennung des 10.000sten Patienten gefeiert, bei der sämtliche Angestellten eine Flasche Bier erhielten. Gemäß aktualisierter Opferliste der Gedenkstätte Hadamar (Stand 2010) betrug die Opferzahl 10.122. Die Menschen wurden in einem als Duschraum getarnten Kellerraum ermordet und ihre Leichen im angrenzenden Krematorium verbrannt. Die Rauchwolken des Krematoriums und der Geruch nach verbrannten Leichen führten zusammen mit Berichten des Personals der Anstalt dazu, dass die Einwohner von Hadamar und Umgebung die systematischen Ermordungen zumindest vermuten konnten.“

https://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%B6tungsanstalt_Hadamar
https://de.wikipedia.org/wiki/Aktion_T4#Hintergr.C3.BCnde_und_historische_Einordnung

In diesem Zusammenhang ist das Zitat von Heinrich Mann: „Ärzte wurden zu Henkern“ zu verstehen.

Was waren die Folgen für die Überlebenden? Gerade weil die Täter Teil des Gesundheitssystems waren, also die, die eigentlich helfen sollten (Ärzte, Pfleger), wurden Kinder und Familienmitglieder mit Behinderungen zu deren Schutz lange vor der Öffentlichkeit versteckt.

Noch in den 80ern des zwanzigsten Jahrhundert waren Menschen mit einer Behinderung nicht selbstverständlich in der Öffentlichkeit. Meine Ehefrau erzählte mir, dass bei einem Wohnungsbrand in der Nachbarschaft zu Beginn der 80er bei der betroffenen Familie plötzlich ein weiteres Kind auftauchte, das vorher niemand der Nachbarn gesehen hatte. Es hatte das Down-Syndrome (Trisomie21) und es war die Angst um das Kind und die Angst vor dem „Gerede“, die dazu führte, das Kind zu verstecken.

Für Menschen mit einer Behinderung war es nie leicht mit dem „Anderssein“ an die Öffentlichkeit zu gehen, erst recht nach der kollektiven Erfahrung der Verbrechen in den Jahren zwischen 1933 bis 1945.

Aus dem Spiegel 52/1977:

… zum Fernsehprogramm am ersten Weihnachtsabend am 25.12.1977: „der „Krüppel“ Kurt, diese „halbe Portion“, der „Rennfahrer“, „Spastiker“, „Lahmarsch“.
Kurt ist gehbehindert, in den Rollstuhl gezwungen, Außenseiter natürlich, Gespött aller Gleichaltrigen“ – eine Ankündigung der „Vorstadtkrokodile“ – ein Kinderkrimi als Zeitzeuge und Aufklärer? Hier wurde das Kind mit Behinderung thematisiert und zum Helden gemacht.

Aus der Geschichte der Behinderung:

„… seit Anfang der 1970er Jahre begann eine Entwicklung, die etwas qualitativ anderes, neues war: die „Krüppelbewegung“ (Eigenbezeichnung) entstand und formierte sich. … … Menschen mit einer körperlichen Behinderung forderten für sich selbst die gleichen Rechte und Möglichkeiten, wie nichtbehinderte Menschen sie als selbstverständlich erachten.“

http://sonderpaedagoge.de/geschichte/wiki/index.php?title=Kr%C3%BCppelbewegung

„Du bist ja behindert“, ein gängiges Schimpfwort auf dem Schulhof für alles „Schlechte, Fremde und Alles das, was man nicht sein will“. Aufklärung, Teilhabe und Konfrontation tut hier not. Vergleiche auch:
http://www.rollialltag.de/perspektivwechsel/

Mit Rollstuhl zur „normalen“ Schule, studieren, arbeiten, ein eigenständiges Leben führen – Themen die uns noch heute beschäftigen. Die Inklusion ist seit der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention, die am 13. Dezember 2006 beschlossen wurde und in Deutschland im März 2009 in Kraft trat ein immer noch sehr kontrovers diskutiertes Thema.

Warum noch kontrovers diskutiert? Die Grundrechte in unserer Verfassung sind vor dem Hintergrund der schrecklichen Erfahrungen zur Zeit des Nationalismus von den „Vätern“ und „Müttern“ des Grundgesetztes eindeutig und klar definiert. Hier zum nachlesen:

https://www.bundestag.de/parlament/aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_01/245122

Ich konnte bei der Eröffnungsfeier zur Ausstellung „Erfasst, verfolgt, vernichtet – Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus“ im Centre Charlemagne in Aachen teilnehmen. Dabei wurde doch noch tatsächlich vom Oberbürgermeister die Frage gestellt, was man noch mehr tun könne, um die Situation von Menschen mit Behinderung zu verbessern. Hier meine Antwort: Nicht mehr aussperren, selbstverständlich am Leben teilnehmen lassen und das zur jeder Zeit und bei jeder Gelegenheit.

(Januar 2017|ml)

Ergänzung im März 2017:
In der Zeit Online erschien ein Artikel zum gleichen Thema mit ergänzenden Informationen.
http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2017/01/euthanasie-ns-regime-kranke-behinderte-massenmord