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anders ist normal

 

Diesen Beitrag beginne ich mit einem Zitat, das ich vor kurzem auf einem Empfang gehört habe: „Sie lachen über mich, weil ich anders bin. Ich lache über sie, weil sie alle gleich sind.“, es stammt von Kurt Cobain, dem verstorbenen Sänger und Gittarist der Band Nirvana.

Dieses Zitat möchte ich als Aufhänger für diesen Beitrag über das „anders sein“ nutzen und dann einen Bogen schlagen zu einem Erklärungsversuch der Frage, was behindert bedeuten kann bzw. wie in diesem Zusammenhang „man ist nicht behindert, sondern man wird behindert“ zu verstehen ist.

Der aufgeklärte Mensch weiß sicher, dass ein besonderes Merkmal, ein anderes Aussehen eines Menschen nicht für Unglücke, Missernten oder Naturkatastrophen verantwortlich ist, aber Glaube, Scheu und Ängste führen immer noch zu seltsamen Reaktionen, Verfolgungen und Ausgrenzungen.

Dies trifft nicht nur auf längst vergangen Zeiten zu, nein, es ist Teil des aktuellen Zeitgeschehens. Neben den vielen religiös, ethnisch und gesellschaftlich bedingten Kriegen und Konflikten kommt es in der Gemengelage mit wirtschaftlichen Interessen zu hoch brisanten Reibungen innerhalb und zwischen gesellschaftlichen Gruppen.

Hier möchte ich ein erschreckendes Beispiel für die Auswirkung für Menschen mit einem Merkmal der Haut zeigen. Durch einen Aberglauben in Teilen Ostafrikas kommt es heute noch dazu, dass Menschen mit einer Pigmentstörung (Albinos) verfolgt und getötete werden. Einige glauben, dass Schmuck aus der Haut oder aus Körperteilen von Albinos besondere Kräfte haben oder einfach Glück bringen. Andere wiederum machen Sie für Unglücke und Naturkatastrophen verantwortlich.

In beiden Fällen führt der Aberglaube zu einem tödlichen Umgang mit den angeblichen Überbringern / Trägern des „Glücks“ oder des „Bösen“. Mit einem körperlichen Merkmal werden besondere Wirkungen verknüpft und diese will man abwehren oder sich aneignen, oder auch nur ein Geschäft damit machen.

Im alten Testament ist noch sehr direkt beschrieben, wie sich die Lebensweise eines Menschen in erkennbarer Weise in dem spiegelt, wie es ihm Materiell ergeht oder welche Unglücke in persönlich treffen. Lebe nach Gottes Regeln und du wirst ein hohes Alter erreichen, viele Nachkommen haben, gute Ernten erzielen und wirtschaftlichen Wohlstand erlangen.

Eine verbreitete Auffassung sah damals in einer Krankheit oder Behinderung eine unmittelbare Strafe Gottes für begangene Schuld. Diese Sichtweise findet sich ebenfalls in andern Kulturkreisen.

Im neuen Testament ändert sich der Bezug und das persönliche Schicksal wurde jetzt anders bewertet: „Da der Mann jedoch schon blind geboren wurde, beschäftigt die Jünger die Frage, ob er denn selber an seiner Behinderung schuld sein kann oder ob seine Eltern Schuld auf sich geladen haben und mit der Geburt eines blinden Kindes bestraft wurden.“ (1) Jesus bricht den angeblichen kausalen Zusammenhang auf, indem er die Frage nach der Ursache mit „weder noch“ beantwortet, er löst die direkte Verknüpfung des persönlichen Schicksals von der Gottesfürchtigkeit, eine Behinderung ist keine Folge einer persönlichen oder ererbten Schuld.

Eine Belohnung oder eine Strafe kündigt Jesus zum Beispiel in der Geschichte vom armen Lazarus erst für die Zeit nach dem Tod an, eine radikale Abkehr von den Vorgaben des alten Testaments. (2) Der Aspekt, dass gerade mit dieser Wende unter dem Versprechen einer himmlischen Belohnung eine Ausbeutung zu Lebzeiten gerechtfertigt wird, wird hier an dieser Stelle nicht weiter eingegangen.

Wie sieht es aktuell in den durch Christentum und Aufklärung geprägten Gesellschaften aus? Im Dezember 1948 wurde von den „Vereinten Nationen“ die allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Artikel 1 lautet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurde im Mai 1949 verabschiedet und hat eine weitreichende Definition der Grundrechte in den ersten Paragrafen aufgeführt und damit eine Basis zu einer offenen und liberalen Gesellschaft gelegt, in der jeder nach seinen Möglichkeiten leben könnte. Aber gerade die detaillierte Ausgestaltung ist ein immer wieder aktueller Prozess, der gerade die Umsetzung der abstrakten Grundrechte erst ermöglicht und einen entsprechenden Spielraum vorgibt. Deutliche Veränderungen gab es seit Gründung der Bundesrepublik auf vielen gesellschaftlichen Feldern: Emanzipation der Frau, Gleichstellungen von gleichgeschlechtliche Lebensweisen, Ehe für alle, etc.

Wird der behinderte Mensch, der vom „konsensharmonisierten Mittelmaß abweicht, in die Abseitigkeit des Häßlichen“ (3) verdrängt? Nach der dramatischen Missachtung der menschlichen Würde im Mittelalter, am Anfang der Neuzeit und besonders in Deutschland der 30/40er des 20. Jahrhunderts begann in den 60/70er eine Bewegung, die für die Achtung der Rechte von Minderheiten eintrat. Noch in den 70er haben Behinderten aus Deutschland in den Niederlanden Asyl (4) beantragt, weil ihnen in Deutschland Menschenrechte vorenthalten und sie diskriminiert wurden.

Wenn in den 70er Jahren die „Krüppel-Bewegung“ (5) noch Postämter, Rathäuser und öffentliche Verkehrsmittel besetzten, um darauf aufmerksam zu machen, dass Ihnen als Menschen mit einer Behinderung die Nutzung dieser Einrichtung vorenthalten wird, wurde erst 1984 in Nordrhein-Westfalen eine Novellierung der Landesbauordnung verabschiedet, die erstmals vorsah, dass öffentliche Gebäude barrierefrei zugänglich sein müssen. Hierunter sind Rathäuser, Postämter, Krankenhäuser, Gaststätten, Arztpraxen, etc. zu verstehen. Wenn man sich unter diesem Gesichtspunkt die Wirklichkeit ansieht, gibt es noch viele Barrieren, auch bei Gebäuden, die nach 1984 errichtet wurden.

Vor dem Hintergrund der massiven Protestbewegungen von Seiten der Verbände Menschen mit Behinderungen wurde bei der Änderung des Grundgesetztes 1994 der Artikel 3, Absatz 3 um letzten Satz ergänzt: “ (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.„

Im Dezember 2006 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen und trat im Mai 2008 in Kraft. Durch den Deutschen Bundestag wurde die UN-BRK im Februar 2009 ratifiziert. Diese Übereinkunft zu den Rechten von Behinderten beginnt mit einer klaren Botschaft:

„Behinderung ist kein Merkmal einer Person. Behinderung entsteht erst, wenn Umweltbedingungen die Person an einer gleichberechtigten Teilhabe am Leben hindert. So schränkt eine Beeinträchtigung Menschen in ihrem Leben nicht zwangsläufig ein – es sind Umweltbedingungen, die an einer gleichberechtigten Teilhabe hindern. Jeder Mensch kann im Verlauf seines Lebens Behinderungen erfahren und sei es auch nur phasenweise.“

In der Regel wird man nicht mit einer Beeinträchtigung geboren, man „erwirbt“ sie im Verlauf des Lebens. Tatsächlich profitiert jeder Mensch von einer Umwelt, die so gestaltet ist, dass Menschen mit Beeinträchtigung im höchsten Grade selbst bestimmt leben können. Der Barrierefreiheit kommt demnach eine wichtige Rolle zu.“ (6)

Erst durch den Kontext wird eine Einschränkung relevant und man wird behindert. Ein Vorgang, der in anderen Rechtsgebieten selbstverständlich verankert ist. Im Sozialrecht wird die Verantwortung für die Behinderung noch dem Betroffen selbst zugeschoben und nicht die Umständen sind Auslöser der Behinderung. Es wird nicht die Bauweise eines Gebäudes verantwortlich gemacht, dass ein Rollstuhlnutzer nicht zu seinem Arbeitsplatz / Schule / Praxis / Amt kommt, sondern der Rollstuhl. Hier wird eine gesellschaftliche Aufgabe Rahmenbedingungen zu schaffen dadurch gelöst, dass man dem Behinderten allein die Verantwort für seine Situation zuschiebt.

In den folgenden Jahren wurden mehrere Gesetze wie das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz – AGG“, das „Behindertengleichstellungsgesetz – BGG“ und besonders das „Bundesteilhabegesetz“ (7) erlassen, die teilweise als zahnlose Tiger, ohne Sanktionsmöglichkeiten,  für eine Verbesserung der Lebensumstände und die soziale Teilhabe von Menschen mit einer Behinderung sorgen sollten.

Gerade das Bundesteilhabegesetz hat einen umfassenden Ansatz, die soziale Teilhabe in allen Lebensbereich zu fördern, eine umfassende Barrierefreiheit zu ermöglichen und damit alle Arten von Einschränkungen als eine „Spielart“ des „anders sein“ sehen zu können. Dieses Gesetzeswerk bedarf der Weiterentwicklung und 2020 soll die zweite Stufe in Kraft treten.

Zum Ende dieses Beitrages möchte ich wieder ein Zitat anführen: „Ohne Träume keine Zukunft! Aber wir wollen uns Träume und Entwürfe von Zukunft nicht verbieten, sondern an ihrer Realisierung arbeiten. Wer nicht mehr träumen kann, nicht mehr in Alternativen denken kann, ist tatsächlich behindert.“ (8)

Denkt daran, in die Sterne zu sehen – und nicht auf eure Füße. (Stephen Hawking)

(Oktober 2018|ml)

 

(1) Evangelium nach Johannes (joh.9, 1-41 EU)

(2) Evangelium nach Lukas (lk.16,19–31 EU)

(3) Müller, Klaus E., Der Krüppel; Ethnologia passionis humanae, München 1996, Seite 113

(4) Klee, Ernst, Behinderten-Report, Frankfurt am Main 1974.

(5) „Krüppel-Bewegung“ als eine Eigenbezeichnung von aktiven Menschen mit Behinderungen in den 70er, deren Ziel eine selbst bestimmte Gestaltung des eigenen Lebens und eine Teilhabe an allen Aspekten des öffentlichen Lebens war.

(6) UN-Behindertenrechtskonvention: Link zur „offizielle Übersetzung“ und zur „Schattenübersetzung“ herausgegeben vom Verein Netzwerk Artikel 3 e.V.

(7) Das NETZWERK ARTIKEL 3 hat sich intensiv für die Entwicklung des Bundesteilhabegesetzes eingesetzt. Auf der Internetseite „teilhabegesetz.org“ ist die Entwicklung des Gesetzes nachvollziehbar und transparent dargestellt.

(8) Ernst Klee: Behindert. Über die Enteignung von Körper und Bewußtsein. Ein kritisches Handbuch. Überarbeitete Ausgabe, Frankfurt am Main 1987.